1983 wusste ich nichts von Estland. Hätte mich jemand gefragt, ich hätte nicht einmal auf der Landkarte zeigen können, wo diese „Sowjet-Republik“ lag. Doch in diesem Jahr begann meine Estland-Arbeit – ohne dass ich das wusste oder wollte oder in die Wege geleitet hätte.
Ich erhielt im Oktober einen Brief von der Provinzialin eines deutschen Frauenordens, der in Norwegen arbeitete. Sie fragte an, ob ich vier Jahre später für ihre Schwestern Exerzitien geben würde, gleich zwei Kurse im Sommer nacheinander. Ich sagte ab. Dann biss mich mein Gewissen, und ich fragte nach. Ja, sie wollten mich immer noch. So haben wir für 1988 diese zwei Exerzitien-Wochen vereinbart.
Im zweiten dieser Kurse war eine amerikanische Ordensfrau, die in Stockholm arbeitete. Sie meinte, ich müsse unbedingt nach Stockholm kommen und dort Exerzitien geben. Ich habe abgesagt. Dann biss mich mein Gewissen, und ich habe mich wieder gemeldet. Schließlich vereinbarten wir ein Bibel-Seminar für Ende Juni 1991.
Ich war zum ersten Mal in Schweden, die Landschaft faszinierte mich. Der Kurs endete am Sonntagvormittag. Er war gut verlaufen. Am Nachmittag wollte ich nach Bremen zurückfliegen, wo ich damals wohnte, aber der Flug wurde auf Montag verschoben. Ich fragte bei meinen Jesuiten in der Stadt, ob ich dort übernachten könnte. Sie meinten, dann könnte ich auch gleich die Abendmesse am Sonntag übernehmen, auf Englisch. Gewiss doch. Mit meiner Gruppe haben wir im Gottesdienst einiges von dem gesungen, was wir während des Kurses gelernt hatten. Am Ende der Feier wurde ich gebeten, am Eingang der Kirche jedem die Hand zu reichen. Alle waren schon gegangen, nur ein junger Mann stand noch in der Ecke, mit Rucksack. Von seinem Aussehen her passte er nicht in dieses Milieu. Er kam und sagte: Father, we need priests like you who sing, come to Estonia! Dann gab er mir ein Heiligenbildchen mit Adressen und Telefonnummern – und ging.
Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Namen Estland hörte. Aber ich gab nicht viel auf den netten jungen Mann. Sein Heiligenbildchen mit den Nummern steckte ich weg und vergaß es. Es war die Zeit, da in Europa große Umbrüche geschahen; für mich als Berliner war es unfassbar, dass es die Zonengrenze nicht mehr geben sollte. Das Fallen der Grenzen fesselte meine ganze Aufmerksamkeit, nicht ein Zettelchen.
Ende August 1991 saß ich in Bremen auf meinen Siebensachen, weil ich nach Hannover umsiedelte, und wartete auf den LKW. Ich nahm ein Buch zur Hand – da fiel ein Zettel heraus. Es war das Heiligenbildchen aus Stockholm. Ich wusste gar nicht, dass es das noch gab. Zum ersten Mal las ich genauer, was darauf stand. Neben anderem eine Telefonnummer, die mit 0039 begann. Das war Italien. Ich schmunzelte, Italien und Estland, das war wohl ein Versehen. Nicht einmal aus Neugier, nur aus Spaß rief ich diese Nummer an… Nach dem ersten Klingeln war sofort eine Männerstimme zu hören, der Mann sprach Deutsch, Südtirol, er war Priester… Ich war verdattert, stotterte mein Anliegen hervor… er sagte nur: Ja, das stimmt alles, fahren sie hin, die werden sich freuen…. Und legte auf.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder erstarren sollte, das war einfach komisch, irgendwie außerhalb alles Rationalen.
In Hannover fragte ich einen älteren Mitbruder, der aus der alten DDR zu uns gekommen war, ob er mit dem Namen Estland etwas verbinden könne, ob Jesuiten von uns dort gewesen seien… und erfuhr überraschende Geschichten. Ja, erzählte der alte Pater, der und der sei dann und dann dort gewesen, und der lebe noch in Berlin im Altersheim, und der andere sei gestorben, usw. Ich war perplex, von all dem wusste ich nichts. (Später erfuhr ich, dass beim Bau der Mauer aus Vorsicht viele Akten, die über Jesuiten in Osteuropa Auskunft gaben, vernichtet worden waren.) In den nächsten Tagen und Wochen begann ich, die Zeitungen aufmerksamer zu lesen, was sie über Estland zu sagen wussten – paradiesisch klang das nicht.
Als ich mit dem alten Pater noch einmal sprach, kam mir plötzlich eine Erinnerung, eine Erinnerung, die schon 30 Jahre zurück lag und vergessen war… Da wurde das neue Noviziat in Berlin eingeweiht, von Kardinal Döpfner, und der ehemalige Provinzial Bley, eine Autoritätsgestalt alter Prägung, war dabei und sagte einige Worte. Ich war noch nicht in den Orden eingetreten, durfte aber filmen. Und von diesen Worten des ehemaligen Provinzials kamen mir folgende plötzlich in den Sinn: Heute feiern wir ein doppeltes Jubiläum, einmal die Einweihung des Noviziates, und dann habe ich heute vor 30 Jahren die litauisch-estnische Provinz eingerichtet…
Als ich zwei Jahre später mein Buch „Jesuiten in Estland“ verfasste, entdeckte ich wieder Außerordentliches: Nämlich den Pater Henri A. Werling, einen Luxemburger, der von diesem Pater Bley im Oktober 1923 als erster Jesuit der zweiten Periode nach Estland geschickt worden war – und der am 22. Februar 1961, zwanzig Tage nach der oben erwähnten Ansprache von eben diesem P. Bley, in Estland verstarb – und niemand wusste davon. Mir war, als hätte P. Werling mit seinem Heimgehen gewartet, bis ich diese Ansprache von P. Bley gehört hätte und so, ohne es zu wissen, wiederum 30 Jahre später eine Brücke zur nächsten Periode schaffen konnte.
Da meine Arbeit der Priesterseelsorge im neuen Bereich noch Luft hatte, plante ich einen Besuch in Estland in den letzten Tagen vor dem 3. Advent 1991. Vom P. General in Rom und vom Provinzial erhielt ich Erlaubnis, auch wenn weder sie noch ich wussten, was ich dort oben eigentlich tun wollte. Mitbrüder besuchen – richtig, aber die lagen unter der Erde! Ich schrieb einen Brief an die Adresse auf dem Heiligenbildchen, erhielt Antwort vom Pfarrer (einem von zwei Priestern im Land), ich könne kommen, wann ich wolle, er sei immer da, mit diesem Brief bekäme ich ein Visum. Später schrieb ich einen Brief und fragte, was ich mitbringen solle – keine Antwort. Ich schickte ein Telegramm – keine Antwort; ich rief die angegebene Nummer an – eine Frau war dran, verstand mich nicht und ich sie nicht… in der Tel-Nummer war eine Ziffer falsch! Wäre sie richtig gewesen, hätte der Pfarrer mir gesagt, ich bräuchte nicht kommen, er sei nicht da, müsse nach Rom. Das wusste ich nun nicht. Im Brief hatte ich geschrieben, bis Mittwochabend 19:00 könne man mich erreichen – aber der Rückruf kam erst eine Stunde später, als ich schon weg war – auch da hätten sie mir nur gesagt, ich bräuchte nicht kommen, der Pfarrer sei nicht da.
So aber kam ich.
Gut, dass ich Ostberlin kannte. Tallinn war noch einige Dimensionen düsterer. Ich bekam, nach Hin und Her (weil ich das Hotel ablehnte wegen gewisser Vorkommnisse dort), ein Kinderbett, schlief mit angezogenen Beinen… und wurde mit Fragen und Erwartungen überschüttet: Ob die Jesuiten zurückkämen? Ob ich das Exerzitienhaus in Kodasema wieder eröffnete, ob ich Vorlesungen halten würde, Katechese, ob ich P. Werling kennte und Profittlich und Antonio Possevino… Ich war erschlagen. Sie wussten mehr als ich. Es war ein Hunger nicht nach Brot, sondern nach Gott und Glauben.
Die drei Tage bis zum Dritten Advent waren randvoll mit Besuchen und Gesprächen. Auch der Mann mit dem Rucksack tauchte auf, Theaterleute kamen und fragten nach Kunst und Ethik, Musiker, ob Exerzitien den Gesang verbessern könnten, Lehrer, wie sie Religion unterrichten sollten. Es war unglaublich. Am dritten Advent feierte ich die Hl. Messe am Altar mit und predigte, eine Dolmetscherin war in der Kirche und übersetzte. Hinten am Eingang sah ich die Tafel: Eduard Profittlich SJ, Episcopus martyr…
Eduard, sagte ich, wir sind wieder da!
Dass daraus 25 Jahre und mehr werden sollten, konnte ich, konnte niemand voraussehen. Als ich zurück in Hannover war, schrieb ich einen langen, detaillierten Brief an meine Oberen; ihre Antwort war einfach: Gut, fein, und jetzt an die Arbeit! Damit war meine „Estland-Mission“ beendet – bis gegen Ende Januar 1992. Da kam im Fernsehen die Nachricht, in Estland herrsche Hungersnot. Ich hatte als Schuljunge in Berlin die Luftbrücke miterlebt, erhielt vom amerikanischen Lastwagen meine erste Apfelsine – und sagte mir spontan: Dann musst du Nahrungsmittel hinaufbringen.
10 to Lebensmittel oder 950 Pakete aus ganz Deutschland, dazu Geldspenden, auch große, kamen zusammen. Es war ein logistisches Meisterwerk. Der LKW sollte über Land hinauffahren, ich hatte aber schon gehört, dass diese Landroute extrem unsicher sei und verlangte eine Überfahrt per Schiff nach Helsinki. Ich flog mit dem Flugzeug hinterher, weil viele Spender verlangten, dass ich persönlich dabei sei. An drei Orten wurden die Pakete durch Helfer der Pfarrei ausgepackt und sicher verstaut. Die Augen von Neidern waren überall. Am 19. März 92 wurde der dritte Teil der Ladung in Tartu im Pfarrhaus verstaut, hinter Gittern und Vorhängen. Als ich später mein Buch schrieb, entdeckte ich voll Verwunderung das Unfassbare: Die ersten Jesuiten waren 1583 am 19. März in Dorpat/Tartu eingetroffen, und die Estin, die für unsere Arbeiten bis heute die wichtigste ist, Frau Meeli Lokk, hat am 19. März Geburtstag…
Ich war in diesem ersten Jahr fünfmal in Estland. Von überall her kamen Anfragen: Die Baptisten luden mich ein zu Vorträgen über Sakramente (!), die Universität Tartu zu theologischen Vorlesungen, die Pfarrei zu Katechesen über Glaubensfragen, usw. Und wir brachten Hilfsgüter hinauf: Betten, Küchengeräte, Nahrungsmittel, Kleider aller Art, Babysachen, Computer, Geld. Insgesamt wurden es 40 Hilfstransporte per LKW, die wir erst nach zehn Jahren einstellten. Schon früh widmeten sich Frauen der Pfarrei vor allem Familien mit vielen Kindern, alten Leuten, jungen Müttern, armen Menschen, an die unsere Pakete verteilt wurden; sogar Kinder packten Pakete für Kinder! Wir begannen eine Suppenküche, die zum Modell für Nachahmer wurde. Wir konnten eine BLEIBE für Mutter und Kind einrichten, die sich zu einem FRAUENZENTRUM weiterentwickelte, das heute politische Bedeutung erlangt hat. Und Neider.
Gleich zu Beginn initiierte ich auch die Herausgabe und den Druck von guten religiösen und psychologischen Büchern, das Riesenwerk „Auf den Spuren Jesu“ war eines unserer ersten (mit Ventura Publisher erstellt!) von über 130 Büchern. Davon schafften wir auch eine Ausgabe in Litauisch. Im Sommer hielt ich in einem früheren Camp der kommunistischen Jugend die ersten Exerzitien mit Erholungs-Anteilen, 20 Pfund Kaffee brachte ich mit und 50 Tafeln Schokolade… 2017 findet der 26. Kurs statt.
Überspringen wir die 25 Jahre bis heute. Muss eigens erwähnt werden, dass sich mit jedem Erfolg zwei Probleme einstellten? Wer in solchen Ländern, die sich aus jahrzehntelanger geistiger, sozialer und religiöser Unterdrückung befreien, arbeitet, muss ein Freund von Problemen sein. Aber neben diesen gab es auch Wunder, wie die ganze Arbeit aus wundersamen Fügungen erwachsen war. Wunder und Probleme begleiten unser Arbeiten bis heute. Im Moment sind gerade wieder Probleme dran.
Heute, im Sommer 2017, sieht das Projekt so aus: In Deutschland existiert der gemeinnützige zivile Verein Johannes-Esto-Zentrum e.V., in Estland deren drei und dazu zwei GmbH. Wir in Deutschland sammeln Geld, um die Arbeiten der Esten, die von ihnen selbst geplant, organisiert und durchgeführt werden, abzusichern. Sie sind äußerst verantwortungsvoll und arbeitsam.
In Estland gibt es in Tartu unser Zentrum in der Näituse-Straße 3; dort ist das Frauenzentrum untergebracht und die zentrale Organisation samt Buchführung. Das Frauenzentrum wie auch das ganze Haus befinden sich in einer Umstrukturierung, da zugesagte staatliche Gelder nicht mehr gezahlt wurden; daraufhin musste die BLEIBE, die wir dort unter dem Dach mit vier Zimmerchen eingerichtet hatten, nach über 12 Jahren geschlossen werden. Aber die Arbeit der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen, allesamt mit Studienabschluss, orientiert sich neu in Richtung auf Beratung und Bildung und Seminare; ihr Hauptthema ist: Gewalt in der Familie. Sie sind im ganzen Land bekannt und von den meisten geschätzt. Die Publikationsarbeit haben wir ausgegliedert, Bücher auf Estnisch werden weiter herausgegeben.
Auf dem Land existiert der dritte gemeinnützige Verein, er unterhält ein altes Landhaus (das gerade renoviert und restauriert werden muss) mit großem Garten, dazu das Gästehaus, das sich selbst tragen muss. Die Landwirtschaft liegt momentan brach, da es an Kräften und Geld mangelt. Es sind vor allem Leute aus nahen Dörfern und junge Leute aus Freundeskreisen, die dort arbeiten. Durch Eigenarbeit lässt sich viel Geld sparen.
Unsere estnischen Vereine und die gesamte Arbeit werden finanziell weder vom Orden noch von der Kirche oder ihren caritativen Hilfswerken unterstützt. Wir leben und arbeiten mithilfe der Spenden vieler Menschen.
Hinter dem ganzen Projekt steht in Deutschland der Förderverein, sein Vorstand und ich als Geschäftsführer. Wir hoffen, diese Arbeit noch fünf Jahre durchtragen zu können, dann bin ich 80 und werde die nötige Kraft nicht mehr aufbringen können. Viermal im Jahr gebe ich einen Rundbrief heraus, der über die aktuellen Fortschritte berichtet. Im September wird die Nr. 100 erscheinen – zur Feier geben wir sie in Farbe heraus. Fünf Jahre also, in denen die Esten es schaffen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu bitte ich um Ihre Mithilfe. Gewiss, es gibt zig Länder, die ärmer sind als Estland. Das ist richtig, es gibt auch Arme in Deutschland. Ich bin aber nun mal nach Estland geführt worden, also bleibe ich bei dieser Arbeit und will so lange meine (und unsere) Energie hineingeben, bis ich sie stabil den Esten übergeben kann.
Hier die Angaben, falls jemand die Arbeiten der Esten unterstützen möchte:
Vorstand: Frau Rita Vater, Herr Theo Goebel, Herr Bernd Huse, Dr. Damian Nowak
Bankverbindung: Postbank Hannover BIC: PBNKDEFF IBAN: DE53 2501 0030 0003 7413 06
Hypo-Vereinsbank BIC: HYVEDEMM300 IBAN: DE55 2003 0000 0622 9115 01
Der Förderverein Johannes-Esto-Zentrum e.V. ist beim Finanzamt Han-Nord als gemeinnützig anerkannt.